Venus Electra Ryter

Man hat die Absicht all meines Strebens direkt pervertiert, unbemerkt die Vorzeichen meines Tuns verkehrt herum gedeutet und über meinen Scheitel hinweggesehen.

Ich habe gesagt Adieu und man hat mich freudig begrüsst. Man hat meine Wut für Freundlichkeit und meine Tobsucht für Enthusiasmus gehalten. In meiner Erschöpfung wollte man glasklaren Eifer erkennen. Ich habe gesagt, lassen Sie mich in Ruhe und man hat verstanden, kommen Sie herein, seien Sie willkommen. Man hat meinen Hunger für Sättigung und mein Zögern für Zustimmung genommen. Ich habe meinen Durst bekannt gemacht und man dachte, ich hätte genug zu trinken. Ich habe gesagt, ich muss nun gehen, es ist Zeit, ich habe einen Termin. Man hat mir geantwortet, schön, dass Sie noch ein wenig bleiben wollen.

Vor einiger Zeit hat man versucht, Besitz von mir zu ergreifen und mir gewisse Vorschriften zu erteilen. Ich gebe zu, dass ich nicht abgeneigt bin, einigen Forderungen nachzukommen und dennoch drängte es mich, den Vorschreibenden abzustossen. Er dachte, dass mein Abstossen nichts mit ihm zu tun gehabt hätte und hat sich vor jeglicher Betroffenheit in Schutz genommen.

Es hat eine Zeit gegeben, in welcher mein Kopf so klein geworden ist, sodass meine fleischigen Wangen an meinem Gesicht herunterhingen. In Mehrfachwülsten haben sich meine Augenlider über meine Augenäpfel gelegt. Mir sind Furunkel gewachsen und Falten haben sich horizontal und vertikal in meine Stirn eingekerbt. Im Rahmen der gewohnten Beschönigungen, hat man mir diese Entbildungen als Grosszügigkeit ausgelegt.

Einmal brach ich zusammen. Man hat mein Zusammenfallen begutachtet und für einen Lachanfall gehalten. Man hätte denken können, ich hätte meine Haare geschnitten, so wenig erkannte man mich wieder. Man hätte meinen können, es hätte sich bei diesem mitleiderregenden Wesen nicht um mich gehandelt und dennoch, ich war es.

Ich zerkleinerte mein Selbst und vergab sämtliche Kräfte. Grösse und Stärke waren nicht mehr Teil von mir. Man interpretierte, dass die Zerkleinerung und Transparentwerdung Teil einer Art Ermächtigung seien, der Weg zu Erhabenheit. Der Prozess der Selbstauslöschung als Refugium. Die Auslöschung als Besitz.

Manchmal reinigte ich mein Münzfach und schüttete den Inhalt in die Hände eines Bettlers.

Weil man nicht hat ertragen können, in mir keine Statue mehr vorzufinden, hat man angefangen, mich zu streicheln und zu hegen als wäre ich eine Heilige, man tränkte und bediente mich. Man bürstete mir die Haare, wusch mir das Gesicht und parfümierte mich ein. Man weichte mir meine Füsse im Wasser ein und befragte mich nach dem Grad meines Glücks. Ausserdem hat man mich neu mit seidenen Kleidern eingemantelt und alles getan, um mich wieder leuchten zu lassen. Man hat mir die Wangen gepudert und mir die Lackschuhe poliert. Man hat mich wieder und weiterhin zeigen wollen und darum war man besorgt darum, mich zeigbar zu machen.

Vor nicht allzu langer Zeit verbrachte ich einige Wochen in einer Heilanstalt. Als ich dort gegen Abend und bei strömendem Regen mit dem Taxi vorfuhr und mittels eines Codes das grosse Haus betrat, begegnete mir auf dem abgedunkelten Flur ein schmächtiger junger Mann mit einer Pilzfrisur. Er begrüsste mich flüchtig. Ansonsten schien keine oder keiner im Haus zu sein, die oder der sich meines Empfangs annehmen wollte. Einige der Gäste, so vernahm ich später, waren ausser Haus gegangen, um sich im grossen Badekurhaus des Dorfes zu saunieren.

Also stieg ich die runde Marmortreppe hinauf und fand mittels eines Raumplans mein Zimmer, aus welchem ich auf ein gelb bemaltes Haus schauen konnte, welches eine Mineralwasserquelle beherbergte. Der Boden meines Zimmers war mit anthrazitfarbenen Kacheln ausgelegt, die Fenster waren von schweren Vorhängen des gleichen Dunkelgraus geziert. Als ich meinen Koffer hingestellt und meinen nassen Regelmantel ausgezogen hatte, überkam es mich scheinbar unvermittelt und ich sah mich in einen Zustand zurückversetzt, in dem ich von elender Verzweiflung umgeben war. Eine Zeit, in welcher ich oft stundenlang auf dem Bett lag und mich nicht traute, dieses, den Raum oder die Wohnung zu verlassen. Ich öffnete nun eines der Fenster und schaute dem Regen zu und auf den mächtigen Fluss, der sich fast uferlos der Anstalt entlang säumte. Während das Rauschen am Tag möglicherweise einen meditativen Effekt erzeugte, wirkte es spätabends bedrohlich. Vor dem Einschlafen glaubte ich darin Gitarrenrockkonzerte zu hören.

Tagsüber glitt man durch die Gänge des Hauses, dessen Fensterscheiben stets mit einem dünnen Karton abgeklebt waren, und suchte in den Vorratskammern nach Essbarem oder bereitete sich ein Getränk aus Aloe Vera und Zitronensaft zu.

Umgeben war das Haus abgesehen vom türkisfarbenen Fluss und steilen Gebirgswänden – wir befanden uns in einem Tal – von wenigen Büschen, unter denen man an sonnigen Tagen Schatten fand. Das bequeme Sitzen oder aber das Liegen schien durch die Leitung des Hauses nicht vorgesehen, so fand man weder drinnen noch draussen gepolstertes Mobiliar. Manchmal versammelte man sich unter dem steinernen Vordach an der Hausfront und setzte sich auf zersplitterte Festbänke an sich auflösende Holztische. Zu fast jeder Tageszeit weilten dort einige Hausgäste, die entweder diätische Mahlzeiten zu sich nahmen oder sich in nicht selten etwas schleppende aber unkontroverse Gespräche verwickelten. Zeitweise vergass ich, warum ich in die Heilanstalt gekommen war und verspürte Lust, eine simpel wirkende, aber nur komplex zu beantwortete Frage in die Runde zu werfen. Ich fragte, ob es nicht sonderbar sei, wie stark die Vorstellung eines Ereignisses jeweils von dem realen Ereignis abweiche. Die Gäste des Hauses brachten mir – ich entnahm dies skeptischer Äusserungen – ein gewisses Misstrauen entgegen und dachten womöglich, ich würde ihr geistiges Kapital zu Recherchezwecken ausbeuten wollen. Ich hingegen rechnete nicht annähernd damit, brauchbare Antworten auf meine Fragen zu finden.

Vielmehr lehnte ich mich in den mit einem Schafsfell ausgekleideten Stuhl und lachte gefällig. Aus einer gewissen Langeweile heraus und doch mit einem Sinn für das Sparsame, begann ich, die Prinzipien des Fortschritts und des Willens zu erklären und zu loben. Als ich merkte, dass ich auf wenig Resonanz stiess, entschied ich mich, den Fokus auf das Wahrnehmbare zu legen und liess mich über das Anstaltsinterieur im Allgemeinen und die Eigenart des peruanischen Läufers, welcher im Flur lag, im Besonderen, aus. Ich lobte ausserdem den Pullover einer Mitbewohnerin, der seit Jahren der gleiche sein musste.

Mir gefiel das Hadern, welches ich in den mich umgebenden Gesichtern wahrnehmen konnte. Es ermutigte mich, in wenigen Sätzen den Sinn und Unsinn des Lebens zu erläutern. Mir gefiel, wie man scheinbar die Unmöglichkeit zu denken pflegte, auch wenn es mir unnötig vorkam, diese zu denken. Wie man den Glauben verlor und sich damit auseinandersetzte, nicht vorwärtszukommen, unterhielt mich bestens.

Ich konnte nie viel mit dieser Form moderater Selbstgefälligkeit anfangen, die völlig am Ansatz der Manie vorbeizielte. Wenn ich für die anderen kochte, dann deshalb, weil ich das Menü meinen Vorstellungen entsprechend umsetzen konnte.

Teilweise kam es mir so vor, als ob die Leute in mir ein Pferd in einem Pferderennen sahen. Alle hätten auf mich gewettet, weil sie dachten, dass ich am schnellsten sein würde. Dabei hat man meine Beine nur noch in den sozialen Medien als stählern wahrnehmen können, die Distanz zwischen Oberschenkel und Wade hat sich in Wirklichkeit aufs Niedrigste erhöht.

Im dämmrigen Licht wurde ich kartoffelsackgleich vom Boden in den Stroh hineingezogen während man sich zum Zeichen meines (vermeintlichen) Sieges fröhlich Luftballone hin und her geschossen hat. Man hat versucht, auch mir einen Ballon zuzuwerfen und dabei nicht wahrgenommen, dass meine Vorderbeine nicht mehr im Stande waren, eine zielgerichtete Bewegung zu vollziehen.

In Barbour-Plagiaten und ausgebeult verkrümmten Halbschuhen stand man im Schummerlicht und behauptete, man habe durch mich und mit mir gewonnen und gesiegt. Weil das Licht sich immer mehr entzog, war meine Sackartigkeit ausserhalb des Lichtkegels schlecht zu sehen.

Aus der Furcht vor der Verschlimmerung rührt die Blockade und auch aus einer offensichtlichen Überflüssigkeit der Anstrengung.

Eines Abends in der Heilanstalt, als man an der grossen Holztafel neben der Küche ein polnisches Pfannengericht aus Buchweizen und Paprika zu sich nahm, hob ich hervor, dass doch eigentlich wir, also die Gäste der Heilanstalt selbst, im Grunde einander therapieren würden, auch wenn uns dies nicht zwingend bewusst sei. Der schmächtige Mann, den ich damals auf dem Hausflur kennengelernt hatte, widersprach und behauptete, es sei die Infrastruktur und Umgebung der Anstalt, die zur Möglichkeit der Heilung und zur gegenseitigen Freundlichkeit beitragen würden.

Einmal habe ich ihnen den kleinen Finger gegeben, dann wollten sie die ganze Hand. Am Ende hat man sie alle in der Stube sitzen, einfach weil man ihnen den kleinen Finger gegeben hat. Sie starren gierig auf deine Hände und versuchen alles, was du in deinen Händen hältst, an sich zu nehmen. Sie sind ausgehungert und hungrig, sie betteln nicht, sie geben keinen Ton von sich und kommunizieren keinen Satz. Aber sie setzen sich auf Stühle um den kleinen Marmortisch, bis dass du ihnen deine Hände gibst.

In der Heilanstalt war ich nicht unbeliebt. Vielleicht hatte es etwas mit meiner Willenlosigkeit, Gleichgültigkeit, meinem Widerholungszwang und meiner Tendenz, mich rückwärtszubewegen, zu tun.

Eines Nachts träumte ich, ich führte ein Leben als Schwertwal. Im Traum hat man mich in einem Delfinarium vorgeführt. In Begriffen der Traumlogik, stellte ich mir vor, dass sich eine gewisse Anhängerschaft meiner Walfigur herauskristallisieren könnte. Gerade weil ich eine Seltenheit darstellte, bekannt für meine Intelligenz war, viel Platz einnahm, und dennoch einen gewissen Hang zur Güte besass, hatte ich Potential von vielen bewundert und geliebt zu werden. Dass sich diese Anhängerschaft qua Anhängerschaft potenzieren konnte, war mir ebenfalls bewusst.

In der Anhängerschaft dann – immer noch im Traum ¬¬– nicht die Möglichkeit einer Zusammenarbeit oder gar einer Unterdrückung zu sehen, fiel mir nicht leicht.

In meinem Dasein als Schwertwal tauchte ich ins Meer hinein und konnte stundenlang ohne Luft auskommen. Wenn ich über dem Wasser schwebte, konnte ich auf sämtliches Meergetier niederschauen und überblickte praktisch alle. Es versteht sich von selbst, dass, wenn ich gewollt hätte, ich über alles hätte regieren können. Mein Körper war derart überdimensional, sodass doch einige begannen, ihre eigene Existenz in Frage zu stellen.

Wäre das Meer eine Stadt gewesen, die Häuser und Menschen darin hätten erbärmlich klein und unzeitgemäss gewirkt. Mit der Zeit hätte sich alles als brüchig herausgestellt, die Häuser wären zu Häuserhaufen und Ruinen verkommen. Damit die Hässlichkeit nicht ins Zentrum gerückt wäre, hätte die Stadt unauffällig die Ruinen wegräumen und neue Häuser aufbauen lassen müssen. Für mein Dasein als Schwertwal wäre dies ideal gewesen. Ich hätte harmlos wüten können. Die Stadt hätte auseinanderfallen können und dennoch wäre nichts passiert.

Eigentlich fleht man nach meiner Abwesenheit und gleichzeitig hält man mich fest am oberen Ärmel und krallt sich mit Händen und Fingern an meiner Weste fest und wenn ich versuche, mich meines Hemdes zu entledigen, dann hat man schon meinen Hosenbund in den Händen. Ich weiss, dass man nichts erträgt und noch nicht einmal meine Abwesenheit wird man verarbeiten können.

Früher einmal, als ich noch jünger war, stand ich mit einer Bekannten im Halbdunkeln an einer Vernissage herum, ich trug eine zerlöcherte Hose und meine Jacke, die zu gross war, roch nach Wachs. Die Bekannte und ich sprachen damals über das Innere und wie man sich nach aussen hin verhalten sollte. Kurzerhand verwendete ich die Metapher des Messias, um zu beschreiben, wen ich in Zukunft zu verkörpern gedachte. Ich sagte, dass es wohl gut wäre, wieder Messias zu sein. Mein Gegenüber hatte sichtlich Mühe, nachzuvollziehen, was ich damit meinte. Ich selbst sah mich zwar unverfälscht in dieser Rolle und dennoch war mir klar, dass es sich, sah man in mir Messias, um ein gravierendes Missverständnis handelte. Es war mir ein Rätsel, wie ich die Menschen hätte heilen und hüten sollen, während ich selbst nicht wusste, wie es sich gestaltete, sich ein Zuhause zu sein.

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